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Laudatio zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Herrn Gerhard Schoenberner, 8. Juli 2011

Das Erfreuliche an einer Ehrenpromotion ist die Tatsache, dass es keiner Gutachten über ein oft unzulängliches, jedenfalls umfängliches und meist schwer verständliches Schriftwerk bedarf. Von den Problemen mit der Rechtschreibung, Grammatik und Syntax oder der Genderisierung (durch Binnen-I oder Unterstrich) ganz zu schweigen. Neuerdings sind sogar inhaltliche Probleme dazugekommen, die Frage nämlich, wie hoch der Eigenanteil des Verfassers am Text seiner Dissertation ist.

Akademische Texte bedürfen, so will es das Ritual, das im Hauptseminar beginnend eingeübt wird, der Vorbemerkung. Sie dient der Absicherung gegen Repressalien, der Prophylaxe gegen den Vorwurf der Inkompetenz, sie ist Demutsgeste und erläutert gelegentlich auch den methodischen Ansatz oder die gender­politische Position des Referenten.

Die schwierigste Textsorte ist, neben dem Grußwort, der Ankündigung der Insolvenz und der Ankündigung, dass ein Brand oder eine ähnliche Katastrophe das Kalte Buffet vernichtet hat, die Laudatio. Vor dem Angesicht des Laureaten muss über ihn berichtet werden, sind seine Meriten zu rühmen, vor den Ohren vieler, die die Details der Vita besser kennen, als Weggefährten, als Mitstreiter, als Schüler oder als Mentoren, als Feinde der zu lobenden Person.

So weit die Vorbemerkung.

Gerhard Schoenberner hat als Publizist, Initiator und Organisator, Ausstellungsmacher, Institutsleiter, Homme de lettres Verdienste um die deutsche Erinnerungskultur wie kaum ein anderer. In den Anfängen als Student der politischen Wissenschaften, der Theaterwissenschaft und Publizistik, dann als freier Journalist, als politisch engagierter Bürger im SDS und in der SPD war er in den 1950er Jahren mit den Themen engagiert, denen sich die Mehrheit der Deutschen in kollektiver Amnesie verweigerte.

Das Dritte Reich, die Ideologie und die Verbrechen des Nationalsozialismus waren seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland keine Themen mehr, die öffentlich diskutiert wurden. Mit den Nürnberger Prozessen hielt man die Sache für abgetan. Täter, Nutznießer, Mitläufer wurden stillschweigend rehabilitiert, die Besatzungszeit galt als Sühnezeit, der Begriff "Umerziehung", der die Anstrengungen der Besatzungsmächte zur Demokratisierung umschrieb, hatte nur pejorative Bedeutung. Demokratie in Verbindung mit dem "Wirtschaftswunder" galt als selbstverständliche Errungenschaft, als eigene Leistung, und im Zeichen des Kalten Krieges wurde die DDR ausschließlich als Schurkenstaat und Unrechtsregime wahrgenommen; damit war auch der ritualisierte Antifaschismus der DDR diskreditiert.

1960 traten Schoenberner und drei Kollegen mit der Ausstellung "Die Vergangenheit mahnt" an die Öffentlichkeit. Es war das erste Mal, dass Verbrechen des NS-Regimes öffentlich thematisiert und in einer Wanderausstellung zur Diskussion gestellt wurden.

Im gleichen Jahr 1960 veröffentlichte Schoenberner die Dokumentation "Der gelbe Stern". Die Sammlung von Foto- und Textdokumenten zum Holocaust war bahnbrechend für die Wahrnehmung des Judenmords durch ein wachsendes Publikum. Das Buch hatte lange vor der Popularisierung im Fernsehen ("Holocaust" 1978) und lange vor der systematischen Erforschung durch die Geschichtswissenschaft Wirkung als Aufklärungs- und Informationsschrift, und sie ist, längst zum Klassiker geworden, in zahlreichen Neuauflagen präsent geblieben. Das Buch ist auch in viele Sprachen übersetzt worden.

Ähnlich erfolgreich und nicht minder wichtig ist der Band "Wir haben es gesehen. Augenzeugenberichte über die Judenverfolgung im Dritten Reich", den Schoenberner 1962 erstmals unter dem Titel "Zeugen sagen aus" vorlegte. Es handelt sich um eine Collage von Schlüsseltexten zur Shoah, die chronologisch angeordnet ab 1933 die wichtigsten Stationen der Judenverfolgung bis 1945 in authentischen Dokumenten nachvollziehbar machen. Das Werk ist, wie spätere Publikationen Schoenberners, ebenso wissenschaftlichen wie didaktischen und publizistischen Standards verpflichtet.

Heute sind wir längst in der Ära der Zeitzeugen angekommen, in der Politiker und Medienschaffende nicht müde werden, die Tatsache zu beklagen, dass es eines Tages keine Zeitzeugen des Holocaust mehr geben wird. Als würde mit dem letzten Überlebenden der Shoah auch alle Kenntnis über die Katastrophe versinken, als würde die Welt in den Zustand vollkommener Amnesie fallen. Das kontrastiert merkwürdig mit der Situation in den ersten drei oder vier Jahrzehnten nach dem Judenmord. Da wollte kaum eine und kaum einer etwas davon wissen und schon gar nicht das authentische Zeugnis der Überlebenden zur Kenntnis nehmen. Ich betone dies, damit deutlich wird, welchen Rang nicht nur in der Erinnerungskultur sondern auch für die Wissenschaft die dokumentarischen Werke Schoenberners haben.

1962 war es schon äußerst singulär, ein Buch mit autobiographischen Texten zur Shoah vorzulegen. Und auch heute noch stockt jedem, der nicht stumpfsinnig oder ganz und gar borniert ist, der Atem, wenn er die Schicksalsberichte liest. Ich will einen solchen Text aus dem Buch "Wir haben es gesehen" vortragen, als Referenz an die Opfer, denen Gerhard Schoenberner das Monument errichtete und als Referenz an ihn, weil er es getan hat. Es ist die Erfahrung eines 12jährigen jüdischen Mädchens aus Polen, Giza Landau, die 1945 diese Sätze aufschrieb:

"ICH MÖCHTE VERGESSEN. Es war ein Frauenlager, und wir schliefen zu dreißig ohne Decken in einer Koje. Es gab Krankheiten, Hunger und viel Schmutz. Täglich starben die Menschen wie Fliegen. Dann brachten sie uns nach Neustadt. Wir saßen zweieinhalb Tage in offenen Waggons. Die Leichen wurden einfach auf den Schnee hinausgeworfen. Sie sahen nicht mehr wie Menschen aus. Aber auch Mutti sah wie eine Leiche aus, und ich konnte nicht mehr aus den Augen sehen. Man trieb uns in einen Pferdestall, wo wir auf Stroh lagen. Wir bekamen keine Decken und kein Wasser zum Waschen. Ich wollte am liebsten sterben, aber Mutti redete mir gut zu. Kaffee und Brot wurde endlich verteilt, aber man mußte sich schlagen, um an den Kessel heranzukommen. Woher Mutti die Kraft nahm, um mein Essen zu kämpfen, weiß ich wirklich nicht. Die Lagerälteste dort haßte Juden. Sie nahm uns die Suppe fort und schlug uns wie Vieh. Alle hatten Typhus und Durchfall. Viele Frauen starben. Bis zum 2. Mai wurden wir immer weniger. Dann sperrten sie unseren Block, nagelten Türen und Fenster mit Brettern zu, und alle dachten, man würde uns in die Luft sprengen oder verbrennen. Sie haben es aber wohl nicht mehr geschafft, weil die Amerikaner kamen und uns befreiten. Zuerst konnte ich nicht begreifen, daß wir keine Angst mehr haben mußten. Wir bekamen Essen und Schokolade; und endlich begriff ich, daß der Krieg zu Ende war ... Jetzt bin ich in Zakopane im Internat und gehe zur Schule. Ich möchte die Lager gern vergessen, aber das kann ich nicht, weil andere Kinder, die auch so etwas erlebt haben, immer davon reden."

Schoenberner hat auf einem weiteren Feld den Rang eines Pioniers, mit seinen Arbeiten zum nationalsozialistischen Film hat er in den 1960er Jahren wichtige Impulse gegeben, damit auch die Programmstruktur der Berlinale beeinflusst und in der Filmförderung und dann als geschäftsführender Vorsitzender der Freunde der deutschen Kinemathek in den 1980er Jahren wesentliche Wirkung entfaltet.

Als Leiter des deutschen Kulturzentrums in Tel Aviv (1973— 1978), der Vorläuferinstitution des Goethe-Instituts, hat Schoenberner auf schwierigem Terrain internationale Kulturarbeit geleistet.

Die bisher aufgezählten Verdienste würden die Würde eines doctor honoris causa allein rechtfertigen. Zu den Meriten Gerhard Schoenberners gehört aber vor allem seine Tätigkeit als Gründungsbeauftragter und erster Direktor der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Schoenberner war Mitglied im Kreis um Joseph Wulf, dem die Initiative für eine Gedenkstätte im Haus der Wannsee-Konferenz zu danken ist. Die Realisierung hat Joseph Wulf, treibende Kraft zu einer Zeit, als Erinnerung noch ohne öffentliche Resonanz beschworen wurde, nicht mehr erlebt. Eine biographische Würdigung Joseph Wulfs hat Gerhard Schoenberner 2006 vorgelegt.

Joseph Wulf endete als tragische Gestalt. Er hatte vorweggenommen, was heute in der Erinnerungskultur selbstverständlich ist, hat bahnbrechende Dokumentationen zum NS-Staat erarbeitet und wenig Anerkennung dafür erfahren, am wenigsten aus den Reihen der zünftigen Historiker. In der Zeitschrift "Dachauer Hefte" hat Schoenberner über die Vorgeschichte der Gedenkstätte "Haus der Wannseevilla" berichtet, die ein Kampf gegen Politik und Bürokratie, gegen Unverständnis, Amnesie und Indolenz war. Das Projekt eines "Internationalen Dokumentationszentrums" des Freundeskreises um Joseph Wulf war Anfang der 1970er Jahre am Ende. Ein letzter Versuch war die Intervention beim Bundespräsidenten Heinemann.

Das Bundespräsidialamt bat den Bundesminister des Innern um Stellungnahme, der sich seinerseits an das Bundesarchiv und das Institut für Zeitgeschichte wandte. Unter diesen Umständen ist es nicht überraschend, wenn es in der Antwort des Bundespräsidialamtes vom 19. Mai 1972 heißt: ,Nach sehr sorgfältiger Abwägung aller maßgeblichen Aspekte ist der Herr Bundesminister des Innern zu dem Ergebnis gelangt, daß die Errichtung des von Ihnen vorgeschlagenen Internationalen Dokumentationszentrums neben dem schon bestehenden Bundesarchiv und dem Institut für Zeitgeschichte vermieden werden muß. Zwar teilt der Bundesminister des Innern die Auffassung, daß die Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgen nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein politisches Problem von großer Bedeutung ist. Er ist jedoch der Auffassung, daß die dem Internationalen Dokumentationszentrum zugedachten Aufgaben bereits ausreichend durch das Bundesarchiv und das Institut für Zeitgeschichte erfüllt werden.' Liest man die alten Korrespondenzen, Protokolle und Rundbriefe aus dem Abstand eines Vierteljahrhunderts noch einmal im Zusammenhang durch, erscheint einem das Ganze wie das Szenario für die erfolgreiche Zermürbung einer ungeliebten Bürgerinitiative mittels Hinhaltepolitik. Die Zeit war noch nicht reif, das politische Klima des Kalten Krieges Wulfs Vorhaben nicht günstig, die nötige Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Veranstaltung am 20. Januar 1942, geheißen hatte, bei der der Mord an den europäischen Juden das Thema war — fasste Gerhard Schoenberner das Programm seines Hauses als Postulat der Aufklärung zusammen: "Es geht nicht mehr um Anklagen und Schuldbekenntnisse, Reue und Sühne. Aber auch für die Nachgeborenen gibt es eine Menschenpflicht des Gedenkens an die Ermordeten. Freilich, es genügt nicht, sich vor den Toten zu verneigen. Es geht darum, zu untersuchen und zu begreifen, was geschah, wie es geschah und warum es geschehen konnte. Die Dimensionen des Verbrechens wie seine entsetzlichen Details zur Kenntnis zu nehmen, aber auch den Gesamtplan zu erkennen, das System, das ihn entwarf und ermöglichte. Es muß geklärt werden, was erklärbar ist, auch wenn Unbegreiflichkeiten bleiben, vor denen man nur verstummen kann."

Der Institutsdirektor Schoenberner ist der kritische Publizist geblieben, als der er begonnen hatte. In der Zeitschrift "Ossietzky", der Nachfolgerin der legendären "Weltbühne", erschien sein Artikel "Gerechtigkeit für Adolf H.", in dem er mit geschliffener Ironie die Zeitläufte analysiert und Lehren aus der Geschichte einfordert: "Zu diesen Lehren gehört ein humaner Umgang mit Asylsuchenden, die politischer Verfolgung entfliehen konnten. Doch längst ist das Grundrecht zur Unkenntlichkeit demontiert worden, längst werden Migranten per Antiterrorgesetz unter Generalverdacht gestellt und einem rigiden Überwachungsregime unterworfen. Sie sind die eigentlichen Verlierer des staatlichen Antiterrorkampfes Dieses Land braucht eine starke außerparlamentarische Opposition und widerständige Menschen, die die demokratischen Lehren aus Krieg und Faschismus der Verdrängung entreißen, die Bürger- und Menschenrechte neu erkämpfen, den Neonazismus, den Rassismus und alles Herrenmenschentum konsequent bekämpfen und sich allen Kriegen widersetzen."

Und Gerhard Schoenberner scheute sich auch nicht, für die Menschenrechte der Bevölkerung der von Israel besetzten Gebiete einzutreten, die Siedlungspolitik als friedenshemmende Maßnahme zu bezeichnen — nicht um den Staat Israel zu delegitimieren oder sich als Antisemit zu outen (solchen Vorwurf ziehen sich bei der Gelegenheit auch Israelfreunde von hysterischen Fanatikern zu), sondern in der Absicht, den Friedensprozess freundschaftlich zu fördern.

Als Autor, Essayist, Ausstellungsmacher, Editor ist Gerhard Schoenberner auch nach dem Rückzug aus seinen Ämtern in der kulturellen und wissenschaftlichen Szene präsent und eine unüberhörbare Stimme im bürgerschaftlichen, demokratischen und erinnerungspolitischen Diskurs.

Der streitbare Intellektuelle ist auch Künstler geblieben. Gerne hätte ich zum Abschluss nebst der Gratulation zum jüngsten Werk daraus vorgelesen. Aber das Buch mit dem vielversprechenden Titel "Fazit: Prosagedichte" ist vom Verlag zwar angekündigt, aber es ist noch nicht greifbar.

Lieber Dr. Schoenberner, wir freuen uns auf das Buch.

Wolfgang Benz

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