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Von Kommunikationspolitik zu Media Governance Revisited: Skizze einer kommunikationswissenschaftlichen Governance-Perspektive in der digitalen Gesellschaft

— Christian Katzenbach (HIIG Berlin)

 

Zusammenfassung

Der Vortrag beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern eine Governance-Perspektive die Betrachtung von Kommunikationspolitik und Medienregulierung in der digitalen Gesellschaft verändert und bereichert. Dabei wird die These entwickelt, dass die bisherige Governance-Rezeption in der Kommunikationspolitik und -wissenschaft, insbesondere in der deutschsprachigen, zu kurz greift und so auch kaum über weithin bekannte Formen der Selbst- und Ko-Regulierung hinaus kommt. Vor diesem Hintergrund begründet der Vortrag eine eigenständige kommunikationswissenschaftliche Governance-Perspektive auf Regelungsstrukturen, die sich von der Fokussierung auf formelle Regeln und Institutionen löst und ihren Kern in Verständigungsprozessen über Regeln des Zusammenlebens formuliert.

Darauf aufbauend wird exemplarisch am Feld des Urheberrecht illustriert, welche praktisch relevanten Regelungsformen durch eine solche Perspektive erst sichtbar werden: diskursive Regulierung; informelle Normen und implizite Praktiken; "private ordering" (insbes. auf Online- Plattformen); Infrastrukturen und Algorithmen. Aus einer Reguierungsperspektive instruktiv ist dabei insbesondere das Wechselverhältnis, also das Überlappen, Ineinandergreifen und manchmal auch -verhaken dieser gesellschaftlichen Regelungsformen untereinander aber auch mit der legislativen und judikativen Regelsetzung.

Der Vortrag leistet damit einen vor allem konzeptionellen Beitrag zur Tagung, indem er die Unübersichtlichkeit praktizierter Regelungsformen in digitalen Umgebungen produktiv wendet und das häufig bemängelte Theorie-Defizit (Just/Puppis 2012; Vowe 2003; Rowland 1984) der Kommunikationspolitik adressiert.

 

Hintergrund

In den vergangenen Jahren haben Debatten über die Regulierung digitaler Medien, über ihre Bereitstellung und Nutzung, eine hohe Aufmerksamkeit in Politik und Öffentlichkeit erlangt. Vordergründig ging es bei den Debatten rund um Stichwörter wie Urheberrecht, Online- Durchsuchungen, Datenschutz, Vorratsdatenspeicherung und Zugangserschwerungsgesetz (vgl. Call for Papers) um richtige oder falsche Reaktionen des regulierenden Staates auf die Herausforderungen der digitalen Gesellschaft. Dabei ist aber gleichzeitig etwas sichtbar geworden, was nicht allein für digitale Umgebungen gilt, wohl aber dort aus dem Hintergrund nach vorne tritt: Legislative und Judikative sind nicht die einzigen Quellen von Regelungsimpulsen in technisch vermittelten Umgebungen; private Anbieter, öffentliche Diskurse, technische Infrastrukturen und Algorithmen regeln und struktieren ebenfalls soziale Kommunikation in erheblichem Maße.

Für die praktische und akademische Herausforderung, mit solch unübersichtlichen Regelungsstrukturen umzugehen, bieten sich ein Blick auf die Governance-Forschung an. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich in den Sozial- und Rechtswissenschaften unter diesem Begriff ein lebhafter Diskussionszusammenhang etabliert, der heterogene und dezentrale Regelungsstrukturen in den Blick nimmt (Schuppert 2005; Benz et al 2007; Schuppert/Zürn 2008; Botzem et al 2009; Bevir 2009). Für die Kommunikationswissenschaft bietet diese Perspektive zunächst scheinbar nicht viel Neues: Regelungsformen, die über dirigistische staatliche Steuerung hinausweisen, kennt die Kommunikationspolitik seit langem; die normative Anforderung der Staatsfreiheit der Medien bedingt eine "besondere Sensibilität der Kommunikationsordnung gegenüber staatlichen Eingriffen" (Hoffmann-Riem 2001: 16) – und so sind Formen der Selbst- und Ko-Regulierung längst Teil der politischen Praxis und der kommunikationspolitischen Reflexion (vgl. exemplarisch Schulz/Held 2002; Hans-Bredow Institut/EMR 2006; Latzer/Just/Sauerwein 2013). Insofern stellt sich die Frage nach dem Mehrwert der Governance-Perspektive in der Kommunikationswissenschaft in besonderem Maße (Jarren/Donges 2007b). Auch wenn einige Autoren konsistente Konzepte von 'Media Governance' vorlegt haben (Donges 2007a; Puppis 2010; Ginosar 2013), steht die Frage nach dem Mehrwert weiter im Raum, denn diese Konzepte fokussieren auf formelle, manifeste Regeln (Gesetze, Urteile plus Pressekodex, Redaktionsleitlinien etc.) und gehen damit über Konzepte der Selbst- und Ko-Regulierung kaum hinaus.

In der Konsequenz bleibt eine Reihe von Formen unsichtbar, in denen die Regeln und Rahmen der medialen Kommunikation – insbesondere, aber nicht nur, in digitalen Umgebungen – ausgehandelt werden (vgl. etwa De Nardis 2012 und Braman 2010 für die Infrastruktur-Ebene, Pohle 2013 und Benkler et al 2013 für die diskursive Ebene). Für diese blinden Flecken der Kommunikationspolitik bieten Governance-Ansätze hilfreiche Anknüpfungspunkte. Der Vortrag hat das Ziel zu zeigen, dass eine institutionentheoretisch begründete, und kommunikationswissenschaftlich weiterentwickelte Governance-Perspektive einen differenzierten Blick auf heterogene Regelungsstrukturen in digitalen Gesellschaften ermöglicht.

 

Struktur des Vortrags

Der Vortrag adressiert diese Fragen, indem er zunächst grundlegende kommunikationspolitische Perspektiven zusammenfasst, und die bisherige Governance-Rezeption in der vor allem deutsprachigen Literatur aufarbeitet (Donges 2002; Donges 2007c; Jarren/Donges 2007a; Vowe 2003; Puppis 2007; Puppis 2010). Dabei zeigt sich, dass (1) Governance primär als Pluralisierung von Akteuren verstanden wird, und dass (2) konzeptionell ein Fokus auf die (formelle) Regel als Regelungsform zu konstatieren ist. Für eine solche Perspektive bleiben aber diskursive, technische und informelle Regelungsformen ein blinder Fleck.

Deshalb entwickelt der Vortrag dann, anknüpfend an Puppis (2010; 2013) und Donges (2007b; 2007a) einen institutionentheoretisch begründeten Vorschlag für eine kommunikationswissenschaftliche Governance-Perspektive. Regelungsstrukturen basieren dann nicht allein auf der formellen „regulativen“ Dimension; auch die "kognitiv-kulturelle" und die "normative" Dimension (Scott 2008) regeln und rahmen mediale Kommunikation. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht wird vorgeschlagen, Verständigungsprozesse über Regeln zu fokussieren (anstatt der Regeln selbst) und davon ausgehend deren vielfältige Institutionalisierungen (Gesetze, Verträge, Debatten, Praktiken, Techniken) in den Blick zu nehmen.

Darauf aufbauend wird dann exemplarisch am Feld des Urheberrecht illustriert, welche praktisch relevanten Regelungsformen durch eine solche Perspektive erst sichtbar werden: es lässt sich (1) zeigen, anknüpfend an Konzepte des "discursive institutionalism" (Schmidt/Radaelli 2006; Schmidt 2008), dass Diskurse nicht nur den Policy-Prozess rahmen und beeinflussen, sondern auch die medialen Kommunikationen und Nutzungen, die Diskurse somit selbst regulatorische Impulse setzen; es wird (2) insbesondere in Kontexten rechtlicher Unsicherheit die Rolle informeller Normen und habitualisierter Praktiken sichtbar; zudem zeigen sich (3) vor allem auf Online-Plattformen etwa in Geschäftsbedingungen und Meldesystemen ("Flagging") Formen des "private ordering" (Gillespie 2010), die im Einklang mit oder im Widerspruch zu Gesetzen Nutzerhandlungen regulieren und sanktionieren; eine Vielzahl dieser und anderer regulatorischer Impulse sind (4) sowohl im "sichtbaren" (Web, Online-Plattformen) wie im "unsichtbaren Teil" (Infrastruktur, Protokolle) des Netzes teils willentlich, teils beiläufig technisch implemtiert (De Nardis 2012; Braman 2010; Lessig 1999).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Auseinandersetzungen über Regeln der medialen Kommunikation bei weitem nicht nur in Parlamenten, Gerichten und Rundfunkräten, und auch nicht allein in transnationalen Foren und Institutionen wie IGF, WSIS und ICANN, auf die sich etwa die Internet-Governance-Forschung lange konzentriert hat (van Eeten/Mueller 2013), stattfinden, sondern in vielfältigen diskursiven, sozialen und auch technischen Zusammenhängen. Für diese Unübersichtlichkeit, so die These des Vortrags, bietet eine kommunikationswissenschaftliche Governance-Perspektive dann eben doch nicht nur "alten Wein in neuen Schläuchen" (Schuppert 2005), sondern tatsächlich einen analytischen Mehrwert, der zur theoretischen und praktischen Weiterentwicklung der Kommunikationspolitik beiträgt.

 

Literatur

  • Benkler, Yochai et al, 2013: Social Mobilization and the Networked Public Sphere: Mapping the SOPA-PIPA Debate. Research Publication No. 2013-16. Berkman Center for Internet & Society, Cambridge, MA. Juli 2013. URL: http://ssrn.com/paper=2295953 (abgerufen: 13/10/2013).
  • Benz, Arthur, Susanne Lütz, Uwe Schimank und Georg Simonis (Hrsg.), 2007, Handbuch Governance: Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder, VS, Verlag, Wiesbaden.
  • Bevir, Mark, 2009: Key concepts in governance, Sage, Los Angeles/London.
  • Botzem, Sebastian, Jeanette Hofmann, Sigrid Quack, Folke Schuppert und Holger Straßheim (Hrsg.), 2009, Governance als Prozess: Koordinationsformen im Wandel, Nomos, Baden-Baden.
  • Braman, Sandra, 2010: The Interpenetration of Technical and Legal Decision-Making for the Internet. Information, Communication & Society 13(3). S. 309-324.
  • Donges, Patrick, 2002: Rundfunkpolitik zwischen Sollen, Wollen und Können: eine theoretische und komparative Analyse der politischen Steuerung des Rundfunks, Westdt. Verlag, Wiesbaden.
  • Donges, Patrick, 2007a: Medienpolitik und Media Governance, in: Patrick Donges (Hrsg.), Von der Medienpolitik zur Media Governance? Halem, Köln, S. 7-23.
  • Donges, Patrick, 2007b: The New Institutionalism as a theoretical foundation of media governance. Communications 32, S. 325-330.
  • Donges, Patrick (Hrsg.), 2007c, Von der Medienpolitik zur Media Governance? Halem, Köln.
  • Gillespie, Tarleton, 2010: The politics of 'platforms'. New Media & Society 12(3). S. 347-364.
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  • Hans-Bredow Institut und EMR, 2006: Endbericht. Studie über Co-Regulierungsmaßnahmen im Medienbereich. Studie für die Europäische Kommission, Generaldirektion Informationsgesellschaft und Medien, Abt. A1 Audiovisuelle Politik und Medienpolitik. Hamburg. Juni 2006. URL: http://ec.europa.eu/comm/avpolicy/docs/library/studies/coregul-final-report-de.pdf.pdf (abgerufen: 31/01/2013).
  • Hoffmann-Riem, Wolfgang, 2001: Steuerung medienvermittelter Kommunikation, in: Helge Rossen-Stadtfeld und Joachim Wieland (Hrsg.), Steuerung medienvermittelter Kommunikation. Theorie, Praxis, Perspektiven, Nomos, Baden-Baden, S. 11-24.
  • Jarren, Otfried und Patrick Donges (Hrsg.), 2007a, Ordnung durch Medienpolitik? UVK, Konstanz.
  • Jarren, Otfried und Patrick Donges, 2007b: Ordnung durch Medienpolitik? Eine (Zwischen- )Bilanz, in: Otfried Jarren und Patrick Donges (Hrsg.), Ordnung durch Medienpolitik? UVK, Konstanz, S. 399-408.
  • Just, Natascha und Manuel Puppis, 2012: Communication Policy Research: Looking Back, Moving Forward, in: Natascha Just und Manuel Puppis (Hrsg.), Trends in Communication Policy Research: New Theories, New Methods, New Subjects, Intellect, Bristol, S. 11-29.
  • Latzer, Michael, Natascha Just und Florian Sauerwein, 2013: Self- and Co-Regulation. Evidence, Legitimacy and Governance Choice, in: Monroe E Price und Stefaan Verhulst (Hrsg.), Routledge Handbook of Media Law, Routledge, Abingdon/New York, S. 373-398.
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  • Pohle, Julia, 2013, Opening the black box of policy change: Analysing policy discourse 'in the making'. Vortrag auf der Konferenz "ECPR General Conference 2013", Bordeaux, 4. September 2013.
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  • Puppis, Manuel, 2010: Media Governance: A New Concept for the Analysis of Media Policy and Regulation. Communication, Culture & Critique 3(2). S. 134-149.
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  • Schmidt, Vivien A und Claudio M Radaelli, 2006: Policy Change and Discourse in Europe: Conceptual and Methodological Issues. West European Politics 27(2). S. 183–210.
  • Schulz, Wolfgang und Thorsten Held, 2002: Regulierte Selbstregulierung als Form modernen Regierens. Im Auftrag des Bundesbeauftragten für Angelegenheiten der Kultur und Medien. Endbericht. Hans-Bredow-Institut, Hamburg. Mai 2002. URL: http://www.hans-bredow-institut.de/webfm_send/53 (abgerufen: 31/10/2012).
  • Schuppert, Gunnar Folke (Hrsg.), 2005, Governanceforschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, Nomos, Baden-Baden.
  • Schuppert, Gunnar Folke und Michael Zürn (Hrsg.), 2008, Governance in einer sich wandelnden Welt, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden.
  • Scott, W Richard, 2008: Institutions and Organizations: Ideas and Interests, 3. Auflage. Sage Publications, Los Angeles.
  • van Eeten, M J und M Mueller, 2013: Where is the governance in Internet governance? New Media & Society 15(5). S. 720-736.
  • Vowe, Gerhard, 2003: Medienpolitik-Regulierung der medialen öffentlichen Kommunikation, in: Hans-Bernd Brosius, Ottfried Jarren und Günther Bentele (Hrsg.), Öffentliche Kommunikation, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, S. 210-227.

 

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