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Europäisches Verfassungsrecht

TypVorlesung
RaumIhnestr. 21 A
Beginn16.10.2006
Zeit

Mo. 12-14 Uhr

Links auf Kursbeschreibung

Die Vorlesung führt in Grundfragen von Recht und Politik am Beispiel des europäischen Verfassungsrechts ein. Dabei soll es zunächst um die Erläuterung von zentralen Begriffen des Konstitutionalisierungsprozesses für ein „Gebilde“ gehen, das mit den herkömmlichen Kategorien von Recht und Politik nicht adäquat zu erfassen ist. Nach einer Übersicht zu den unterschiedlichen Angeboten für die Qualifizierung der Europäischen Union als rechtlich verfasste Gemeinschaft sollen die Grundprinzipien europäischen Rechts vorgestellt werden. Als Leitfragen europäischen Verfas-sungsrechts werden die Bewältigung der föderalen Dimension, der Umgang mit Werten und die Suche nach den Legitimationsgrundlagen des europäischen „Projekts“ behandelt. Dabei steht die Frage im Vordergrund, inwieweit es bisher gelungen ist, die „Herrschaft des Rechts“ demokratisch auszugestalten. Abschließend werden Perspektiven europäischen Verfassungsdenkens aufgezeigt, wobei auf Chancen und Risiken einer europäischen Verfassung eingegangen wird.

Basisliteratur: Armin v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003 (im Handapparat); für einen Leistungsnachweis ist die regelmäßige Teilnahme sowie das Bestehen der Klausur am Ende des Semesters erforderlich. Vorlesungsbegleitende Folien werden im Netz bereitgestellt.

Leitgedanken

Die Vorlesung beschreibt ein Paradox, in das sich begibt, wer den Blick auf das europäische Verfassungsrecht lenkt. Zum einen geht es um die Erläuterung grundlegender Begriffe, die in einem bestimmten historischen Kontext entstanden sind und mit denen wir gelernt haben, staatliche Gemeinwesen zu beschreiben und „in Ordnung“ zu bringen. So gesehen ist Verfassungsrecht staatsbezogenes Recht, das Recht des Verfassungsstaates eine zivilisatorische Errungenschaft der Moderne. Die Europäische Union ist aber kein Staat und soll es nach dem Willen der Unionsbürger auch nicht werden. So fragt sich also, ob die staatstheoretischen Leitbegriffe wie Verfassung, Demokratie und Legitimität hier überhaupt angemessen sind. Die Situation stellt sich insoweit als paradox dar, als die staatsbezogenen Begriffe nicht verabschiedet werden können, aber auf ein nicht-staatliches Gemeinwesen bezogen und modifiziert werden müssen. Ein Abschied von den staatsbezogenen Ordnungskategorien kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil es an Ersatzbegriffen weitgehend fehlt. Aber den Bedarf an Modifizierung zu bestimmen, fällt schwer, fehlt es doch an einer europawissenschaftlichen Theorie für die europäische Grundordnung. Die dichotomische Gegenüberstellung von Staat und Nicht-Staat oder von Verfassung und Nicht-Verfassung trägt nicht. Vielmehr sind die Ordnungsebenen so miteinander verschränkt, dass eine idealisierende Überhöhung des Staates unter der Idee einer Einheit von Politik und Recht im Staat und seiner Verfassung anachronistische Züge erhält. Weder lässt sich die nationale Verfassung als Vollverfassung verstehen, hinter der jede supranationale Verfassungsordnung irregulär oder defizitär erscheinen muss. Noch sind die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ zu verstehen, die sich nach völkerrechtlichem Vorbild als souveräne Einheiten zwischen europäische Hoheitsgewalt und Unionsbürger schieben könnten. Wer die Verfassung bewahren will, muss sie europäisch denken, also ein Gemeinwesen annehmen, dass nicht im Sinne eines scharfen „entweder-oder“ konstruiert ist, sondern nationale und supranationale Elemente miteinander verschränkt und in wechselseitiger Komplementarität verfasst. So gesehen, gibt es keine europäische Verfassung jenseits der nationalen Verfassung wie es umgekehrt keine nationale Verfassung gibt, die sich gegenüber der europäischen Verfassung einfach sperren könnte.