Zielsetzung
Lehre und Forschung zu Gewerkschaften wie auch ihre Verbindung zu gewerkschaftlicher Praxis haben eine lange Tradition am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Dieser thematische Schwerpunkt geht auf den Institutsgründer Otto Suhr zurück, dessen Karriere in der Gewerkschaftsbewegung begann und der sich für eine Verbindung von Wissenschaft und Praxis einsetzte. Er wurde von Berliner Politikwissenschaftlern wie Gert von Eynern, Otto Stammer und Ernst Fraenkel fortgesetzt und weiterentwickelt.
Aufbauend auf dieser langjährigen Forschungstradition haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsstelle ein Forschungsprofil entwickelt, das im Kontext eines interdisziplinären Selbstverständnisses des Otto-Suhr-Institutes steht und die Forschungsansätze des ehemaligen Zentralinstituts für Sozialwissenschaftliche Forschung zu Gewerkschaften und Verbänden als intermediären Organisationen berücksichtigt
Traditionellerweise werden Gewerkschaften oder generell Wirtschaftsverbände in politikwissenschaftlicher und institutionalistischer Perspektive vorrangig als nationale Akteure des demokratisch-parlamentarisch verfassten politischen Systems untersucht. Im Zentrum des Forschungsinteresses stehen entweder die Binnenstrukturen (innerverbandliche Demokratie) oder die Rolle von Wirtschaftsverbänden als intermediäre Organisationen in der politischen Willensbildung und in verschiedenen Politikfeldern (von der Sozial- bis zur Wirtschaftspolitik). In der Arbeitsstelle fassen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Untersuchungsgegenstand mit dem Begriff der "politischen Regulierung der Arbeitsbeziehungen" wesentlich weiter. Es geht um ein Forschungsfeld, das alle Machtbeziehungen und Aushandlungsprozesse zwischen Staat, Kapital und Arbeit (Normen, Regeln, Verfahren und Institutionen) sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen System und auf verschiedenen Handlungsebenen umfasst.
Politische Regulierung als Normsetzung in Entscheidungsverfahren, an denen Repräsentanten staatlicher, Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberinteressen beteiligt sind, findet in verschiedenen Arenen und unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure statt. Diese bleibt nicht auf die Verfassungsorgane oder tripartistische Steuerungsbünde unter Beteiligung von Spitzenverbänden beschränkt. Zentral sind auch Institutionen der Tarifautonomie und Mitbestimmung auf Branchen- oder Betriebsebene unter Beteiligung von sektoralen oder betrieblichen Akteuren. Infolge von europäischer Integration und Globalisierung werden zunehmend die Grenzen des Nationalstaats überschritten und neue Formen internationaler Regulierung gewinnen an Bedeutung. Deshalb werden in der Arbeitsstelle internationale, nationale, regionale wie auch betriebliche Akteure, ihre Organisation und Politik untersucht. Gleichermaßen werden Konflikte, Interessen und Normsetzung in klassischen Politikfeldern (von der Sozial- bis zur Umweltpolitik), in verschiedenen Feldern der Tarifpolitik (von Arbeitszeitregelungen bis zur Entlohnung), in der Betriebspolitik sowie in internationalen Arbeitsbeziehungen analysiert. Dabei findet auch die Geschlechter-Dimension Berücksichtigung.
Als einzige Forschungsgruppe in der Bundesrepublik Deutschland, die sich thematisch mit der politischen Regulierung der Arbeitsbeziehungen beschäftigt, umfasst das Angebot der Arbeitsstelle nicht nur Lehre und Forschung, sondern darüber hinaus auch wissenschaftliche Service-Leistungen, zum Beispiel die Bereitstellung einer Internet-Datenbank. Die Datenbank "Gewerkschaften und Industrielle Beziehungen" (GIB) umfasst ca. 10.000 Literaturnachweise.
Einen wichtigen Stellenwert der Forschungstätigkeit in den letzten Jahren nimmt auch die historische Gewerkschaftsentwicklung - insbesondere die Verfolgung und der Widerstand von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern im Nationalsozialismus sowie die Entwicklung der Gewerkschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Ost- und Westteil Deutschlands - ein.