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Digitalisierung: Das Ende der Lizenzierung? Befunde einer komparativen Analyse der Zulassung von Privatrundfunk in 18 Ländern

— Matthias Künzler (FU Berlin), Manuel Puppis (Uni Fribourg), Corinne Schweizer & Samuel Studer (Uni Zürich)

 

Die Digitalisierung des Rundfunks ist in Europa bereits weit fortgeschritten: Ende 2012 haben 22 von 27 EU-Mitgliedstaaten sowie Kroatien, Norwegen, Island und die Schweiz im Fernsehbereich den analogen Switch-Off vollzogen (vgl. Europäische Audiovisuelle Informationsstelle 2013). Im Radiobereich nimmt analoges terrestrisches Radio zwar weiterhin eine zentrale Rolle ein, dennoch wachsen auch dort die Reichweiten des digitalen Radios kontinuierlich. Deshalb plant beispielsweise Grossbritannien bereits den Switch-Off (vgl. Ward 2013).

Diese Entwicklung hat weitreichende Folgen für die Rundfunkregulierung: Mit der Ausweitung des Frequenzspektrums entfällt die Frequenzknappheit als traditionelle Begründung für Regulierung grösstenteils, und es wird schwieriger, private Rundfunksender auf die Wahrnehmung bestimmter Regulierungsziele als Gegenleistung für die Vergabe des Verbreitungsprivilegs zu verpflichten. Damit verändert der technische Wandel bestehende Regulierungsprinzipien, wie im Call for Papers dargestellt.

In Anbetracht dieses Wandels fragen die Autoren, ob eine Gestaltung des privaten Rundfunksektors durch das traditionelle Regulierungsinstrument der Lizenzierung in der digitalen Welt noch möglich ist und welche Regulierungsmöglichkeiten bestehen. Diese Fragestellung wird auf Grundlage von Ergebnissen einer neuen, von den Autoren durchgeführten, komparativen Studie über die Lizenzierung von Privatrundfunk beantwortet. Es wird empirisch dargestellt, ob wegen der grösseren Zahl an Frequenzen auf eine Lizenzierung im digitalen Spektrum verzichtet wird; ob die Lizenzierung wie in der Vergangenheit an einzelne Sender oder neu an Betreiber der Sendeinfrastruktur (z. B. Multiplexbetreiber) gebunden ist (vgl. Machet 2010); ob und welche Typen privater Rundfunkanbieter überhaupt noch eine Lizenz benötigen; wie die Vergabeverfahren in der digitalen Welt ausgestaltet werden; welche inhaltlichen und organisatorischen Auflagen für lizenzierte Sender gelten und von welchen Privilegien (Distribution, Subventionen) lizenzierte Sender profitieren. Abschliessend wird thematisiert, wie die Rundfunkaufsicht ausgestaltet ist (Sanktionsmöglichkeiten, Evaluationsverfahren etc.).

Methodisch werden die aufgeworfenen Fragen über eine breit angelegte, komparative Analyse von 18 europäischen und angelsächsischen Ländern beantwortet. Dabei wurden Länder mit unterschiedlichen Mediensystemen und Regulierungstraditionen berücksichtigt. Die Fallauswahl kombiniert die Typologie von Mediensystemen nach politischer Tradition (Hallin/Mancini) und nach Marktgrösse (Gross- und Kleinstaaten) (vgl. Puppis et al. 2009). Dementsprechend wurden grosse und kleine Länder ausgewählt, deren Mediensysteme sich dem "liberalen Modell" (Grossbritannien, USA, Irland, Neuseeland, Kanada, Australien), dem "demokratisch-korporatistischen" (Deutschland, Österreich, Schweiz, Niederlande, flämischsprachige Region Belgiens, französischsprachige Region Belgiens, Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland) und dem "polarisiert pluralistischen" Modell (Italien, Frankeich) zuord- nen lassen. Dieser Vergleich erlaubt es, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Regulierungspraxis und neue Regulierungsmodelle zu erkennen, zu klassifizieren und zu typologisieren (vgl. u.a. Esser 2003; Puppis/d’Haenens 2012). Die Datenerhebung erfolgte mittels einer qualitativen Dokumentenanalyse, indem Rechtsdokumente (Gesetze, Erlasse von Behörden etc.), Dokumente von Regulierungsorganisationen und Sekundärliteratur gesammelt und auf Basis eines qualitativen Auswertungsverfahrens anhand eines deduktiv erarbeiteten Analyserasters ausgewertet wurden (vgl. dazu u.a. Mayring 2010; Mason 2002). Anschliessend erfolgte der Vergleich der untersuchten Länder auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Be- zug auf die eingesetzten Regulierungsinstrumente sowie die Interpretation der Daten (vgl. Kleinsteuber 2003).

Diese komparative Untersuchung der Lizenzierung von Privatrundfunk stellt eine eigentliche Forschungslücke dar. Bestehende empirische Studien über die Lizenzierung von privatem oder öffentlichem Rundfunk analysieren entweder lediglich ein einzelnes Land (z.B. Lunt/Livingstone 2012: 94ff.; Schulz et al. 2002; d’Haenens/Antoine/Saeys 2009; Enli/Sundet 2007), behandeln im Fall von Ländervergleichen die Lizenzierung privater Rundfunkanbieter als untergeordneten Teilaspekt ihrer Analyse von Einführung und Regulierung des privaten Rundfunks (z. B. Künzler 2009; Papathanassopoulos/Negrine 2011; Donders/Pauwels/Loisen 2013) oder sind veraltet und vermögen deswegen keine Auskunft über die neusten Entwicklungen im Bereich Digitalisierung zu geben (z.B. Hoffmann-Riem 1996).

Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass trotz der Erweiterung des Frequenzspektrums durch die Digitalisierung die meisten Länder an einer Lizenzierung und damit an diesem Regulierungsinstrument zur Gestaltung der Rundfunkstruktur festhalten. Private Rundfunkunternehmen, die ihre Fernseh- oder Radioprogramme analog oder digital terrestrisch verbreiteten wollen, benötigen in den meisten Ländern nach wie vor eine Lizenz benötigen. Lockerer sind die Bestimmungen für andere Verbreitungswege (Kabel, Satellit, Internet), dort wird nur noch in etwa der Hälfte der untersuchten Fälle eine Lizenz benötigt.

Obwohl die meisten Länder sich damit die Gestaltungsoption der Lizenzierung gerade auch im digitalen Bereich vorbehalten, zeigt der Vergleich auch, dass diese Option in vielen Fällen nicht genutzt wird, um vielfaltsfördernde Zielsetzungen durchzusetzen. Insbesondere in liberalen Mediensystemen werden Frequenzen über Auktionen vergeben. Zudem garantiert die Vergabe einer Lizenz für digitalen Rundfunk nicht automatisch die Möglichkeit zur Nutzung einer Frequenz (insbesondere nicht in einigen Kleinstaaten): Hierfür bedarf es teilweise einer zusätzlichen Frequenzgenehmigung oder die Verbreitung muss zwischen Sender und Multiplexbetreiber selbst verhandelt werden. Ebenfalls wird die Einhaltung von organisatorischen oder programmlichen Lizenzanforderungen nur in wenigen Ländern evaluiert, obwohl sich alle Länder Sanktionsmöglichkeiten bei Verstössen gegen Lizenzbedingungen vorbehalten. Auch die Erneuerung von Lizenzen wird in zahlreichen Länder nicht an weitergehende Bedingungen geknüpft: Oftmals werden vereinfachte oder abgekürzte Verfahren angewendet.

Obwohl die Lizenzbedingungen in vielen Fällen eher locker ausgestaltet sind, erhalten die lizenzierte Privatsender in allen Ländern gewisse Privilegien: Diese reichen von Verbreitungsrechten in Kabelnetzen ("must carry rules") bis hin zu Subventionen. Damit hätten die Regulatoren zwar Instrumente in der Hand, auch im digitalen Zeitalter, bestimmte medienpolitische Zielsetzungen über Lizenzierung und Vergabe von bestimmten Privilegien einzufordern. Allerdings nützen sie diesen potenziellen regulatorischen Gestaltungsspielraum oftmals nur in beschränktem Mass aus, indem sie den Sendern in vielen Fällen lediglich rudimentäre Auflagen machen.

Für die zukünftige Entwicklung der Regulierung des Digitalrundfunks stellt sich deshalb die medienpolitische Frage, ob weiterhin an der gegenwärtigen Tendenz zu minimalen Auflagen festgehalten wird oder ob das Regulierungsinstrument der Lizenzierung nicht genutzt werden sollte, um auch in der digitalen Welt vielfaltsfördernde Massnahmen umzusetzen.

 

Literatur

  • d’Haenens, Leen/Antoine, Frédéric/Saeys, Frieda (2009): Belgium: Two Communities with Diverging Views on How to Manage Media Diversity. In: International Communication Gazette, 71(1-2), S. 51-66.
  • Donders, Karen/Pauwels, Caroline/Loisen, Jan (Hrsg.) (2013): Private Television in Western Europe. Content, Market, Policies. Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan.
  • Enli, Gunn Sara/Sundet, Vilde Schanke (2007): Strategies in times of regulatory change: a Norwegian case study on the battle for a commercial radio licence. In: Media, Culture & Society, 29(5), S. 707-725.
  • Europäische Audiovisuelle Informationsstelle (2013): 22 von 27 EU-Mitgliedstaaten haben 2012 das terrestrische Analogfernsehen abgeschaltet und halten sich somit an eine Empfehlung der Europäischen Union. Pressemitteilung vom 11.03.2013. http://www.obs.coe.int/about/oea/pr/mavise_2013mars_dtt_so.html.
  • Esser, Frank (2003): Gut, dass wir verglichen haben. Bilanz und Bedeutung der komparativen politischen Kom- munikationsforschung. In: Esser, Frank / Pfetsch, Barbara (Hrsg.): Politische Kommunikation im internationalen Vergleich. Grundlagen, Anwendungen, Perspektiven. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. S. 437-494.
  • Hoffmann-Riem, Wolfgang (1996): Regulating Media. The Licensing and Supervision of Broadcasting in Six Countries. New York: Guilford Press. Kleinsteuber 2003.
  • Kleinsteuber, Hans J. (2003): Mediensysteme im internationalen Vergleich. In: Bentele, Günter/Brosius, Hans- Bernd/Jarren, Otfried (Hrsg.): Öffentliche Kommunikation. Handbuch Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 382-396.
  • Künzler, Matthias (2009): Die Liberalisierung von Radio und Fernsehen. Leitbilder der Rundfunkregulierung im Ländervergleich. Konstanz: UVK.
  • Lunt, Peter/Livingstone, Sonia (2012): Media Regulation. Governance and the Interests of Citizens and Consumers. London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage.
  • Machet, Emmanuelle (2010): Regulatory and Licensing Models for DTT. Summary of the answers to the questionnaire 32nd EPRA Meeting, Belgrade, 6-8 October 2010 (Revised version). http://epra3-production.s3.amazonaws.com/attachments/files/817/original/DTT_summary_answers_final_revised.pdf?1323685476.
  • Mason, Jennifer (2002): Qualitative Researching. 2. Auflage. London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage.
  • Mayring, Philipp (2010): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 11., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Weinheim/Basel: Beltz. 
  • Papathanassopoulos, Stylianos/Negrine, Ralph (2011): European Media: Structures, Policies and Identity. Cambridge/Malden: Polity.
  • Puppis, Manuel / d'Haenens, Leen / Steinmaurer, Thomas / Künzler, Matthias (2009): The European and Global Dimension: Taking Small Media Systems Research to the Next Level. In: International Communication Gazette 71, H. 1-2. S. 105-110.
  • Puppis, Manuel/d’Haenens, Leen (2012): Comparing Media Policy and Regulation. In: Esser, Frank/Hanitzsch, Thomas (Hrsg.): Handbook of Comparative Communication Research. London/New York: Routledge, S. 221-233.
  • Schulz, Wolfgang/Jürgens, Uwe/Held, Thorsten/Dreyer, Stephan (2002): Regulation of Broadcasting and Internet Services in Germany. A brief overview (Working Papers of the Hans Bredow Institute No. 13). Hamburg: Hans Bredow Institute.
  • Ward, Philip (2013): Digital radio switchover. (Library House of Commons) Auf: http://www.parliament.uk/briefing-papers/SN06524.

 

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