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Die Debatte um Netzneutralität aus öffentlichkeitstheoretischer Sicht

— Maria Löblich (TU Dresden) & Francesca Musiani (MINES ParisTech, France)

Vollständiger Beitrag im Tagungsband

 

Dieser Vortrag fragt nach der Bedeutung, die die weltweite Debatte um Netzneutralität für die Kommunikationswissenschaft hat, speziell für die Kommunikationspolitikforschung. Das Prinzip der Netzneutralität beinhaltet die gleiche Behandlung von Datenpaketen, die über das Internet transportiert werden, unabhängig von Inhalt, Plattform, Quelle, Empfänger oder Dienst (Wu, 2003). Das Internet als ein Set von Distributionskanälen kann Kommunikation in der Öffentlichkeit ermöglichen, aber auch beschränken. In der Debatte um Netzneutralität geht es im Kern um die Frage, inwieweit das Internet für Diskriminierung und für Zugangs- und Kommunikationskontrolle benutzt werden kann. Diese Frage betrifft individuelle Nutzer genauso wie korporative Inhalteanbieter, etwa Medienorganisationen, und berührt die grundlegenden Werte Vielfalt, Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit. Aus kommunikationspolitischer Sicht setzt Öffentlichkeit die Umsetzung dieser Werte voraus. Das interdisziplinäre Feld der Netzneutralitätsforschung wird sowohl in den USA als auch in Europa in erster Linie von Wirtschaftswissenschaftlern und Juristen bestimmt. Die Kommunikationswissenschaft hat sich mit den politischen Prozessen und Kampagnen zu diesem konfliktträchtigen Problem beschäftigt, jedoch eher selten die konkreten policy-Themen untersucht (vgl. aber etwa Krone & Pellegrini, 2012; Yoo, 2012). 

Unser Beitrag nähert sich der Netzneutralitätsdebatte von einer öffentlichkeitstheoretischen Perspektive. Unser erstes Ziel ist es, diese Debatte aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht zu interpretieren. Einige der Themen, die heute dem weitverbreiteten Label "Netzneutralität" zugeordnet werden, sind von Kommunikationspolitikforschern in anderer Bezeichnung schon länger untersucht worden. Unser zweites Ziel ist es deshalb, auf diese Beiträge hinzuweisen. Unser Vortrag möchte die Netzneutralitätsdebatte durch einen kommunikationswissenschaftlichen Blickwinkel ergänzen und eine Brücke zwischen den verschiedenen Forschungsrichtungen schlagen.

 

Öffentlichkeitstheoretischer Rahmen

Für unsere Reinterpretation stützen wir uns auf Dahlgrens (1995, 2005) Öffentlichkeitsmodell und nutzen es als heuristischen Rahmen, um den Forschungsstand zu systematisieren. Dahlgrens Modell enthält drei analytische Dimensionen von Öffentlichkeit: Struktur, Darstellung und Interaktion. Jede dieser drei Dimensionen eröffnet Zugang zu einem spezifischen Bündel von Netzneutralitätsthemen. Die strukturelle Dimension ermöglicht den Blick auf die technischen und ökonomischen Implikationen für Inhalteanbieter. Die Dimension Darstellung erlaubt die Frage nach Kommunikationsangeboten, Vielfalt und Inhaltskontrolle. Auf die Formen, Kulturen und Räume von internetbasierter Kommunikation macht die Interaktionsdimension aufmerksam.

 

Basis: Analyse des Forschungsstands

Grundlage unseres Vortrags ist eine Analyse des Forschungsstands. Mehrere Auswahlkriterien waren nötig, um den Forschungsstand in diesem unübersichtlichen Forschungsfeld zu erschließen, zu dem Disziplinen mit unterschiedlichen Publikationskulturen beitragen. Die Literatursuche wurde mit mehreren Datenbanken (Academic Search Complete, HOLLIS) betrieben, beruhte auf Verweisen innerhalb der Literatur und zielte auf globale Reichweite. Weil der Großteil der Forschung in den USA entstanden ist und die genutzten Datenbanken einen US-Hintergrund haben, konnte ein gewisser US-Zentrismus nicht vermieden werden. Trotz des Einbezugs von französischen und deutschen Beiträgen existiert eine Verzerrung hin zu englischsprachiger Literatur. Beiträge, die sich nur mit technischen Aspekten, nicht mit politischen Aspekten von Netzneutralität befassten, wurden ausgeschlossen.

 

Netzneutralität

Kommunikationsnetzwerke ohne jeglichen Eingriff existieren praktisch nicht. Verschiedene Techniken des Netzwerkmanagements sind in den letzten Jahren verwendet worden, häufig aufgrund technischer Notwendigkeit, zum Beispiel um Spam zu bekämpfen (Krämer et al., 2013). Der steigende Bandbreitenbedarf (Video Download, Streaming) hat zu Diskussionen über "Verkehrsstau", Praktiken von Internet Service Providern beim Netzwerkmanagement und über den Konflikt zwischen End-to-End-Prinzip und Quality-of-Service-Anforderungen geführt. Die Kernfrage in der Netzneutralitätsdebatte dreht sich deshalb um den Punkt, ob staatliche Regulierungsmaßnahmen notwendig sind, um die Neutralität des Internets so weit wie möglich zu erhalten, oder ob es den Internet Service Providern überlassen bleiben soll, zwischen verschiedenen Arten von Datenpaketen zu unterscheiden und diese in einer mehr oder weniger hohen Geschwindigkeit an ihr Ziel zu befördern (Peha et al., 2007).

 

Ergebnisse

Nach einer Erläuterung des nicht unproblematischen Begriffs Netzneutralität mit seinen miteinander verwobenen technischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Aspekten (Vogelsang, 2010; Marsden, 2010; Powell & Cooper, 2011) diskutieren wir im ersten Schritt die spezifischen Themenbündel, die von Dahlgrens Öffentlichkeitsdimensionen erschlossen werden. Uns kommt es dabei nicht darauf an, Antworten auf Regulierungsfragen zu geben oder eine spezifische Position in dieser politisierten Debatte zu beziehen, wir wollen stattdessen auf Themen aufmerksam machen, die aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht relevant sind. Im zweiten Schritt gehen wir auf Beispiele ein, die zeigen, was die kommunikationspolitische Forschung zu der Debatte schon beigetragen hat, auch wenn sie nicht das Netzneutralitätslabel benutzt hat.

Hinsichtlich der strukturellen Dimension untersuchen wir, welche mit Netzneutralität verbundenen technischen und ökonomischen Zusammenhänge die Organisation von Öffentlichkeit beeinflussen und den Zugang von verschiedenen Akteuren zur Internetinfrastruktur prägen. Wir konzentrieren uns hier auf audiovisuelle Inhalteanbieter und Nachrichtenmedien und thematisieren Quality of Service- Anforderungen und Must-Carry-Regeln. Die Dimension der Darstellung eröffnet Zugang zu dem Komplex an Netzneutralitätsthemen, bei denen es um die Identifikation, Priorisierung und Kontrolle von Inhalten geht. Deep Packet Inspection ist eine Technologie, die sowohl Netzwerkmanagement, Nutzerservice- und Sicherheitsfunktionen erfüllt, aber auch die Blockierung und Kontrolle von Inhalten zu Zwecken der Rechtsdurchsetzung ermöglicht. Die Interaktionsdimension erlaubt es den Themenkomplex zu erschließen, der als "walled garden"-Phänomen bezeichnet wird. In geschlossenen Systemen bieten Firmen wie Apple Dienste an, ohne Zugang zum offenen Internet zu erlauben, kontrollieren Software (Apps) und lassen nur bestimmte Inhalte zu. Hier sind die Folgen zu untersuchen, die solche Systeme für Online-Interaktion haben.

Unsere öffentlichkeitstheoretische Heuristik eröffnet einen neuen Zugang zur Netzneutralitätsdebatte. Sie zeigt, wie sich die Kommunikationswissenschaft in dieser Debatte positionieren kann und wie sie durch – wenn auch anders benannte Beiträge – die etablierten rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Traditionen ergänzt.

 

Literatur

  • Dahlgren, P. (1995). Television and the Public Sphere. London: Sage.
  • Dahlgren, P. (2005). The Internet, public spheres, and political communication: Dispersion and deliberation. Political Communication, 22, 147-162.
  • Krämer, J.,Wiewiorra, L. & Weinhardt, C. (2013). Net neutrality: A progress report. Telecommunications Policy, 37(9), 794-813.
  • Krone, J. & Pellegrini, T. (2012) (Hrsg.). Netzneutralität und Netzbewirtschaftung. Multimedia in Telekommunikationsnetzwerken. Baden-Baden: Nomos.
  • Marsden, C. (2010). Net neutrality. Towards a co-regulatory solution. London: Bloomsbury Academy.
  • Peha, J., Lehr, W. & Wilkie, S. (2007). Introduction: The state of the debate on network neutrality. International Journal of Communication, 1, 709-716.
  • Powell, A. & Cooper, A. (2011). Net neutrality discourses: Comparing advocacy and regulatory arguments in the US and the UK. The Information Society 27(5), 311-325.
  • Vogelsang, I. (2010). Die Debatte um Netzneutralität und Quality of Service. In D. Klumpp, H. Kubicek, A. Roßnagel & W. Schulz (Hrsg.), Netzwelt – Wege – Werte – Wandel (S. 5-14). Berlin: Springer. http://dx.doi.org/10.1007/978-3-642-05054-1_1
  • Wu, T. (2003). Network neutrality, broadband discrimination. Journal of Telecommunications and High Technology Law, 2, 141-179.
  • Yoo, C. S. (2012). Network neutrality and the need for a technological turn in Internet scholarship. In M. E. Price, S. G. Verhulst & L. Morgan (Hrsg.), Routledge handbook of media law (S. 539-555). New York, Abingdon: Routledge.

 

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