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"Konvergenz": Klärung eines kommunikationswissenschaftlichen Schlüsselbegriffs

— Gerhard Vowe & Philipp Henn (HHU Düsseldorf)

Vollständiger Beitrag im Tagungsband

 

In dem CfP für die Tagung wird unter anderem gefragt: "Mit welchen Ausprägungen der Digitalisierung muss sich die heutige Kommunikationspolitik auseinandersetzen? Welche Aspekte des technischen Fortschritts, der Konvergenz der Medien und des Wandels der Mediennutzung setzen die bisherigen Regulierungsprinzipien unter Druck?" Dabei wird explizit zu "theoretische(n) Begriffsklärungen" eingeladen. Dazu will dieser Vortrag einen Beitrag leisten, und zwar mit einer grundlegenden Klärung des Begriffes "Konvergenz".

In dem Vortrag soll folgende Frage beantwortet werden: Was sollte unter "Konvergenz" in einem kommunikationswissenschaftlichen Kontext verstanden werden? Eine Antwort darauf ist deshalb relevant, weil "Konvergenz" ein Schlüsselbegriff für die Online-Kommunikation ist und eine Brücke zwischen technischen Potentialen und kommunikativen Anwendungen darstellt – eine Brücke, die in beiden Richtungen zu begehen ist. Eine gründliche Klärung des Begriffs hätte Konsequenzen für Forschungsdesigns und für (netz-)politische Strategien.

Ziel ist folglich eine facettierte Definition dieses Schlüsselbegriffs, die auf einer systematischen Klärung der Bedeutung in drei Schritten beruht. Diese Schritte sind so angelegt, dass sie prinzipiell auch zur gründlichen Klärung anderer Schlüsselbegriffe genutzt werden können. Das Vorgehen kann also verallgemeinert werden; die Klärung des Konvergenzbegriffs ist als ein entsprechender Test des Vorgehens angelegt.

Die drei Schritte zur Klärung der Bedeutung des Begriffs Konvergenz sind:

  • Im ersten Schritt wird das generelle semantische Feld von "Konvergenz" diachron und synchron untersucht. Dazu wird die Begriffsgeschichte dargelegt (e.g. Institut für Deutsche Sprache, 1995; Simpson & Weiner, 1989), insbesondere die lateinische Wurzel (convergere) und die Entwicklung der Bedeutung im deutschen und englischen Sprachraum (e.g. converge, convergence, convergency). Dabei wird "Konvergenz" kontrastiert mit verwandten Begriffen wie "Kongruenz", "Divergenz" oder "Hybrid" und möglichen Oberbegriffen zugeordnet. Ergebnis ist ein semantisches Differential, das die grundlegenden Aspekte der Begriffsbedeutung von "Konvergenz" aufspannt und jeweils als Nominal- oder Ordinalskalen darstellt. Aspekte sind beispielsweise Richtung, Ursprung, Rhythmus und Objekt (der Konvergenz).
  • Im zweiten Schritt wird dargelegt, welche theoretischen Ansätze sich mit dem Begriff verbinden: Welche spezifisch wissenschaftliche Bedeutung ist ihm also zuzuschreiben? Dabei ist für die Klärung eines Schlüsselbegriffs wie Konvergenz ein transdisziplinärer Zugriff möglich und erforderlich. Dafür ist zu klären, welche Bedeutungsunterschiede und -gemeinsamkeiten der Begriff in den verschiedenen Wissenschaften hat, und zwar in den Naturwissenschaften (z.B. Biologie: Parallelevolution; Conway Morris, 2006), in den Ingenieurswissenschaften (z.B. Zusammenführung von Farbsignalen in der Fernsehtechnik; Wendland 1988) und in der Politikwissenschaft (z.B. Angleichung der sozialpolitischen Systeme der EU-Staaten; Paraskevopoulos, 2001). Besondere Aufmerksamkeit gebührt der Bedeutung in der Kommunikationswissenschaft (z.B. Annäherung des Programmprofils öffentlich-rechtlicher und privater Fernsehanbieter: Bruns & Marcinkowski, 1996; Entwicklung hybrider Medien und Mediensysteme: Chadwick, 2013; Höflich, 1997). Zusätzliche Informationen bieten die unterschiedlichen Visualisierungen von Konvergenzprozessen in den jeweiligen Wissenschaften.
  • Im dritten Schritt wird auf diesem Hintergrund eine Dimensionierung des Begriffes vorgenommen. Dies beruht auf einer Konstruktion von Kommunikation als einem n-dimensionalen Raum, dessen Dimensionen mit W-Fragen bezeichnet werden können: womit (Techniken), was (Elemente), wozu (Funktionen), wie (Formen), wer (Rollen), wo (Räume), von wem (Anbieter), wann (Prozesse). Die wichtigsten Dimensionen von Konvergenz sind folglich das Zusammenwachsen von Kommunikationstechniken (Fernsehen, Telefonnetz, Computer u.a.), von Kommunikationselementen (Text, Bild, Ton u.a.), von Kommunikationsformen (Massenkommunikation, interpersonale Kommunikation, Computerkommunikation u.a.), von Kommunikationsfunktionen (Information, Persuasion, Transaktion u.a.), von Kommunikationsrollen (Produzent, Konsument, Beobachter u.a.), von Kommunikationsräumen (domal, lokal, global u.a.), von Kommunikationsanbietern (Computerfirmen, Telekommunikationsunternehmen, Massenmedien u.a.) und von Kommunikationsprozessen (Aktion, Reaktion, Rückkopplung u.a.). Die Konvergenzen in den einzelnen Dimensionen beruhen auf dem digitalen Code: Alle Kommunikation ist in diesem universellen Code von 0 und 1 abbildbar und über diesen Code verknüpfbar. Über diesen Code kann folglich zusammengeführt werden, was in einer analogen Welt scharf getrennt war.

Daraus leitet sich eine kommunikationswissenschaftlich basierte Definition von "Konvergenz" ab, die den Begriff einem Oberbegriff zuordnet, ihn von anderen Begriffen abgrenzt und die wichtigsten Unterbegriffe benennt.

Daraus ergeben sich Schlussfolgerungen in verschiedener Hinsicht:

Mit Blick auf die Forschung ist in zwei Richtungen zu überlegen: (1) Welche neuen Grenzen ergeben sich, wenn durch Konvergenzprozesse die alten Grenzen obsolet werden? Und welche Konsequenzen hat das für den Begriff der Konvergenz? (2) Wie könnte eine weiter gehende Klärung des Begriffs empirisch untersetzt werden, etwa durch Inhaltsanalysen von Fachtexten oder durch Vignettenanalysen (factorial survey: Rossi & Anderson, 1982)?

Mit Blick auf die Netz- oder Online-Politik ist ebenfalls in zwei Richtungen zu überlegen: (1) Welche Notwendigkeiten der Veränderung von Politik macht der facettierte Begriff deutlich? Bislang technisch, praktisch, wissenschaftlich, wirtschaftlich, rechtlich und politisch scharf getrennte Bereiche wachsen nun zusammen, wie z.B. Individual- und Massenkommunikation. Das erfordert eine Neu-Orientierung der Politik. (2) Welche Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet der facettierte Begriff? Politik kann an den verschiedenen Dimensionen ansetzen, um poli- tische Ziele zu realisieren und die unterschiedlichen Interessen auszutarieren, die sich mit Konvergenz verbinden (Deutscher Bundestag, 2013).

Abschließend wird beurteilt, welcher Stellenwert dem Konvergenzbegriff zuzuschreiben ist – in Relation zu anderen zentralen Begriffen der Kommunikationswissenschaft wie Medien, Kommunikation oder Akteur.

 

Literatur

  • Bruns, T., & Marcinkowski, F. (1996). Konvergenz Revisited: neue Befunde zu einer älteren Diskussion. Rundfunk & Fernsehen, 44, 461-478.
  • Chadwick, A. (2013). The hybrid media system: Politics and power. Oxford: Oxford University Press.
  • Conway Morris, S. (2006). Evolutionary convergence. Current Biology, 16(19). R826-R827.
  • Deutscher Bundestag (2013). Drucksache 17/12550. Schlussbericht der Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft". Verfügbar unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/125/1712550.pdf
  • Höflich, Joachim R. (1997). Zwischen massenmedialer und technischer Kommunikation. Der Computer als Hybridmedium und was die Menschen damit machen. In K. Beck & G. Vowe (Hrsg.), Computernetze – ein Medium öffentlicher Kommunikation? (S. 85-104). Berlin: Spiess.
  • Institut für deutsche Sprache (1995). Deutsches Fremdwörterbuch (2. Aufl.). Berlin: de Gruyter.
  • Paraskevopoulos, C. C. (2001). Interpreting convergence in the European Union. Patterns of collective action, social learning and Europeanization. Basingstoke: Palgrave.
  • Rossi, P. H., & Anderson, A. B. (1982). The factorial survey approach. An introduction. In P. H. Rossi & S. L. Nock (Hrsg.), Measuring social judgments. The factorial survey approach (S. 15–67). Beverly Hills: Sage.
  • Simpson, J.,& Weiner, E. (Hrsg.) (1989). The Oxford Englisch Dictionary (2. Aufl.). Oxford: Clarendon.
  • Wendland, B. (1988). Fernsehtechnik. Band 1- Grundlagen, Heidelberg: Hüthig.

 

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