Sex/Arbeit, Körper und Migration in Berlin. Grauzonen der Freizügigkeit. Migration, kommerzialisierte Sexualität und (ost-)europäische Körper in Berlin
Prekäre Freizügigkeiten
Verkörperlichte Subjektivierungsprozesse im Spannungsfeld zwischen Sex, Arbeit und Ost‑/Europa in Berlin
Seit seiner Wiedervereinigung entwickelte sich Berlin (abermals) zu einem politischen Machtzentrum und einer ‚europäischen‘ Metropole, die bis weit über ihre Grenzen hinaus für ihre (sexuelle) Toleranz bekannt ist. Fungiert die deutsche Hauptstadt dadurch aus hegemonialer ‚westeuropäischer‘ bzw. westdeutscher Perspektive als Symbol für die Freiheiten des vereinten ‚Europas‘, handelt es sich bei Berlin zugleich um einen urbanen Raum, in dem die Grenzen (west-)‚europäischer‘ Zugehörigkeiten auf verschiedenen Ebenen gezogen und verhandelt werden. Ein Schauplatz dieser Verhandlungen sind die medialen und politischen Diskussionen über ‚osteuropäische Prostituierte‘, die seit den 2000er Jahren über die Grenzen der Stadt hinaus deutsche Sexarbeitsdiskurse prägen. Die Figur der ‚osteuropäischen Prostituierten‘ fungiert dabei jedoch vielmehr als Projektionsfläche für Migrationsängste und die Peripherisierung ‚Osteuropas‘, während die Perspektiven, Motivationen und Realitäten von Menschen aus ‚osteuropäischen‘ Ländern, die in Berlin in der Sexarbeit tätig sind, dabei kaum Beachtung finden.
Wie also gestalten sich die Lebens- und Arbeitsrealitäten von sexarbeitenden Migrant*innen aus ‚osteuropäischen‘ Ländern in Berlin? Und wie finden darin verkörperlichte Verhandlungen von europäischen Ost-West-Dichotomien (Lewicki 2020) ihren Ausdruck? Diesen Fragen ging ich im Rahmen einer ethnographischen Feldforschung von Juli 2017 bis August 2018 nach. Dabei führte ich teilnehmende Beobachtungen am Straßenstrich im Kurfürstenkiez, in sog. ‚Stricherkneipen‘ im Nollendorfkiez sowie einigen Berliner Stripclubs durch, suchte zahlreiche Bordelle auf, unternahm Recherchen auf Online-Plattformen für Escort-Dienstleistungen und sprach mit 45 sexarbeitenden Personen aus Bulgarien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Russland, der Ukraine und Ungarn über ihre (Arbeits-)Alltage in Berlin.
Die Lebensrealitäten dieser Personen gestalteten sich äußerst heterogen: Es handelte sich bei den Teilnehmer*innen um Studentinnen und Auszubildende, alleinerziehende Mütter, junge Männer, armutsbetroffene Personen, Akademikerinnen und Arbeiter*innen, die auf den ersten Blick kaum mehr gemeinsam hatten als die Tatsache, dass sie sich in Berlin aufhielten und in der Stadt verschiedenen Formen der Sexarbeit nachgingen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Wie ich in dieser Studie aufzeige, verband diese Personen jedoch auch der Umstand, dass sich ihre Lebens- und Arbeitsalltagen in einem Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeiten zu und Ausgrenzungen von einem durch Ideale weißer, ‚westeuropäischer‘ Mittel- und Oberschichten geprägten neoliberalen ‚Europa‘ entfalteten.
Denn ihre mobilen Orientierungen (Mai 2018) waren eng mit Vorstellungen von (West-)‚Europa‘ als Raum der Verwirklichung bzw. individuellen Verwirklichbarkeit eines ‚guten Lebens‘ verbunden. Orientierten sich zwar nicht alle Teilnehmer*innen in Richtung eines dauerhaften Lebens in Berlin, so war es dennoch der urbane Raum der deutschen Hauptstadt, der soziale Mobilitäten greifbar erscheinen ließ. Zumal die Heterogenitäten der Stadt auch eine anonyme oder geheime Involvierung in Sexarbeit ermöglichten, die für die Teilnehmer*innen zugleich Möglichkeit und Notwendigkeit zur Umsetzung ihrer mobilen Orientierungen darstellte.
In Berlin sahen sich die Teilnehmer*innen nämlich auch mit dem Umstand konfrontiert, dass diesem (implizit West-)‚Europa‘ ein ‚noch-nicht-ganz europäisches‘ ‚Osteuropa‘ gegenübergestellt wird, das sein ‚Europäisch-Sein‘ erst unter Beweis stellen musste (Parvulescu 2014). Diese Abwertung ‚Osteuropas‘, die in Berlin zudem auf spezifischen historischen Relationen zwischen Deutschland und den Regionen östlich des Landes aufbaute, bedingte eine Marginalisierung und Prekarisierung derjenigen Personen, die als ‚osteuropäisch‘ kategorisiert wurden. Denn bei diesem ‚Osteuropa‘ handelte es sich nicht um ein klar eingrenzbares geographisches Gebiet, sondern vielmehr um ein durch ethnisiert-rassifizierte, vergeschlechtlichte und sozioökonomische Hierarchien bestimmtes Konstrukt. Dies ermöglichte es den Teilnehmer*innen, ihre Zugehörigkeiten zu (‚Ost-)Europa‘ in verschiedenen Kontexten zu verhandeln. Zentral dabei erwiesen sich die (Un‑)Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Verkörperung (west‑)‚europäischer‘ Werte und Normen wie z. B. eines gewissen Lebensstandards, eines (neo-)liberalen Umgangs mit Sexualität und der Performanz (west‑)‚europäischen‘ weiß-Seins.
Diese individuellen Verhandlungen erwiesen sich dabei jedoch nicht nur als Herausforderung europäischer Ost-West-Dichotomien, sondern auch als Moment ihrer (Re‑)Produktion. Denn die Verheißungen des neoliberalen (West-)‚Europas‘ von Mobilität und Selbstverwirklichung durch individuellen Einsatz verschleierten zugleich den Umstand, dass der Gewährleistung dieser Freiheiten eine strukturelle Ausgrenzung und Ausbeutung von all denjenigen zugrunde liegt, die dem hegemonialen (West-)‚Europa‘ als nicht-(ganz-)‚europäische‘ Andere gegenübergestellt werden. So blieben die Teilnehmer*innen in einem Spannungsverhältnis zwischen einer (angestrebten) Anteilhabe an ‚europäischen‘ Freiheiten und einer Marginalisierung als ‚Osteuropäer*innen‘ verhangen, wodurch ihre Freizügigkeiten zwar vorhanden, aber dennoch prekär waren.
Promotionsprojekt 2016-2022
Betreut von Prof. Dr. Hansjörg Dilger und Prof. Dr. Thomas Stodulka
Von 2017-2020 gefördert mit dem Elsa-Neumann-Stipendium des Landes Berlin